Kompositionspreisträgerin 2019: Mirela Ivičević
Roh, unperfekt, politisch, sinnlich
Was die Jury bewog, den Erste Bank Kompositionspreis bei Wien Modern an Mirela Ivičević zu vergeben
Begründung: Gerd Kühr
Womit und wie beginnen, wenn es gilt, Gedanken zu Person und Werk der Komponistin Mirela Ivičević zu Papier zu bringen, Gedanken, die eine Begründung für die Zuerkennung des Erste Bank Kompositionspreises 2019 ergeben sollen? Erklärt Ivičević doch dezidiert, dass sie keine Grenzen ziehe, alles im Blick habe, alles in Erwägung ziehe. Angesichts ihrer kompromisslos offenen Ästhetik kann man ausschließen, dass es sich bei ihrer Haltung um Naivität oder gar Anmaßung handeln könnte. Und hält man sich das bisher vorliegende OEuvre der diesjährigen Preisträgerin vor Augen, fällt sofort eine bemerkenswerte Bandbreite auf – sowohl hinsichtlich Thematik, Inspirationsquellen und Besetzung als auch hinsichtlich stilistischer Mittel, ästhetischer Ansätze und der Verwendung verschiedener Kompositionstechniken.
Sie selbst hat in einem Interview als Beschreibung ihrer Musik das Wort „dirty“ in den Mund genommen, und das lässt einen an eine historische Parallele denken. Es war Hans Werner Henze, der Pablo Nerudas Begriff einer „poesía impura“ auf die Musik übertragen und damit eine ästhetische Kategorie für seine eigene Musik eingeführt und sie „musica impura“ genannt hat. Neruda fühlte sich Mitte der 1930er-Jahre herausgefordert, seine literarische Arbeit und sein künstlerisches Selbstverständnis gegenüber dem Konzept einer „reinen“ Poesie auf der Suche nach dem Vollendeten, Göttlichen – einer „poesía pura“ – abzugrenzen.
Wie klar sich auch Ivičević davon distanziert, machen weitere Vokabel deutlich, die sie immer wieder gerne verwendet: „raw, imperfect, unpolished“. Wir haben es mit einer Komponistin zu tun, die etwas in den Fokus rückt, das in der neuen Musik für einige Jahrzehnte lediglich von geringer Relevanz war: das Politische in der Musik. Die Erscheinungsformen heutzutage, wie eben bei Mirela Ivičević, sind entsprechend der deutlich komplexer gewordenen Welt vielfältiger und von unterschiedlichster Ausprägung, anders als in den 1950er- und 1960er-Jahren, wenn wir etwa an Kompositionen von Nono und Henze denken. Bei Ivičević kommt der politische Anspruch meist auch leichtfüßiger daher als anno dazumal, jedoch keinesfalls weniger dringlich. Ihre Musik ist selten agitatorisch, aber trotzdem bestimmt, unmissverständlich und uns Hörer und Hörerinnen oft überrumpelnd, in einem Strudel fortreißend.
Um das alles musikalisch überzeugend umzusetzen – und dies stellt selbstverständlich das Entscheidende jeder kompositorischen Arbeit dar –, kann Mirela Ivičević auf eine breitgefächerte und profunde Ausbildung zurückgreifen: ein strenges, traditionelles Studium der Musiktheorie und der Komposition bei Željko Brkanović in Zagreb, Medienkomposition und angewandte Musik bei Klaus-Peter Sattler in Wien, schließlich ein Postgraduiertenstudium bei Beat Furrer in Graz. Vom Handwerklichen bis hin zur Erstellung von Konzepten, die sowohl auf alltäglichen als auch musikphilosophischen Überlegungen basieren – dies alles verschafft ihr die entsprechende Palette an kompositorischen Möglichkeiten, sich dem Thema Pluralismus zu stellen und diesem mittels unterschiedlicher Techniken adäquat gerecht zu werden. Ihre Tätigkeit als Performerin und Kuratorin ergänzt und beeinflusst ihre kompositorische Arbeit zusätzlich.
Mirela Ivičević nimmt Komponieren („componere“ = zusammensetzen) gerne wörtlich, es wird collagiert und gesampelt. Das Ergebnis nennt sie „Sonic Fiction“: Aus Fragmenten der Wirklichkeit entsteht eine eigene, surreale Welt. Bereits bekanntes und wiedererkennbares Klangmaterial steht gleichberechtigt neben Innovativem. Ihre Klangwelt lässt sich als eine überaus dynamische, kurzweilige Berg- und Talfahrt beschreiben, die Überraschungen bereithält und von einer generellen Wachheit der Autorin kündet, deren Fantasie ausufernd erscheint. Ihr neues Werk „Sweet Dreams“ für Instrumentalensemble lässt gerade in dieser Hinsicht einiges erwarten, geht es in diesem Stück doch primär um den raschen Wechsel zwischen Schlaf- und Wachzuständen. Ihre lebendige, sinnliche Klangsprache (sie spricht von „subversivem Potenzial des Klangs“), in jeglicher Hinsicht genreübergreifend, stellt ein Plädoyer für die Vielfalt, für die Koexistenz von Verschiedenem dar und bezieht damit Stellung in der Mitte der Gesellschaft.