Kompositionspreisträger 2015: Peter Jakober

Schreiben, was man liebt
Anmerkungen zu Peter Jakober und seinem Ambiente
Lothar Knessl

„In allen Bereichen der Musikszene ist diese Hermetik, die hasse ich ...“. Peter Jakober wäre froh, verschwände sie. Lieber kein Anflug des Hassens. Keine Zäune. Ohne sie, hingegen mit Zuneigung, ließe sich bei jedem jungen Menschen Spannendes herausholen. Solches sagt er im seit zwei Jahren bewohnten Komponier-Atelier. Eher ein gemütliches Zimmer, der Ofen holzbefeuert. Kein Mahler’sches Komponierhäuschen samt See vor der Tür. Wenigstens das Hallenbad Döbling liegt nahe. Jakobers Arbeitsstätte findet man ein Stück unterhalb der Hohen Warte (einst Synonym für Fußball, derzeit Zentralstation der Wetterpropheten), in der Nusswaldgasse. Das Besondere daran die nach orientalischen Vorbildern gebaute ehemalige Insektenpulverfabrik Zacherl. Jugendstil in Grenzgestalt, prächtige Keramik-Fassade. Fabrikant Johann Evangelist Zacherl bezog den Rohstoff für sein Produkt aus Persien. Der Gebäudekomplex, angeschlossen ausladend alter Baumbestand im Kühle spendenden Garten, ein Ruheparadies, sich zu besinnen. Jakober dankt den kunstsinnigen Eigentümern Veronika und Peter Zacherl für das Domizil, er lernte sie in einem Konzert des Klangforum Wien kennen. Bei Veranstaltungen und Konzerten ist ihr Spiritus Rector der Priester und Kunsthistoriker Gustav Schörghofer.

Im neuen Arbeitsraum fühlt sich Jakober wohl. Ein Morgenmensch. Offen, emotionell, unprätentiös. Einer, der sich freuen kann und das weiter gibt, den Ärger möglichst rasch abklingen lässt. Der Komponisten-Beruf kennt auch die dunklen Seiten. „Einer schließt den anderen aus, der andere jenen, einer kämpft nur … das ist halt so.“ Und das versucht er wegzustecken, bei sich selbst zu bleiben. Plant, was sich gerade ergibt. Von einem Stück zum nächsten. Das sei belebend. „Ich habe keinen sehr großen Plan, wie das Leben weitergeht. Da kriege ich nur Angst.“ Unabhängig davon: Hitchcock-Enthusiast. Spannung und Ungewissheit evozieren.

Ohne Angst jedoch vertieft er sich in das Werk zum Erste Bank-Kompositionspreis, Uraufführung bei WIEN MODERN am 13. November: „Substantie“ für zehn Instrumente und Live-Elektronik. Eine gewichtige Vorgabe. Substanz bedeutet das Wesentliche der Dinge, philosophisch das für sich Seiende, unabhängig von anderem Existierenden. Meint aber auch das als Basis Vorhandene. Der Impuls für Jakober kam vom niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), Sohn iberischer Sephardim. Unter Substanz versteht er das, was in sich ist und aus sich selbst begriffen wird. In etwa heißt das, der Substanz-Begriff bedarf keines anderen Ding-Begriffes, um daraus gebildet zu werden. Spinoza folgert, dass diese Substanz unendlich ist und mit Gott gleichzusetzen sei. Das Göttliche, das Unendliche, das nichts anderes braucht. Jakober war von Spinozas Axiom fasziniert: „Den Satz voranzustellen, war für mich eine emotionelle Entscheidung, nicht eine rationale. Die Aussage ist so schön, und ich glaube, sie passt zu meinem Stück.“ Hypothetisch wäre ableitbar, die Musik bedürfe als Substanz keiner anderen, weil sie im Kosmos ihrer Klanglichkeit aus sich selbst zu begreifen ist. Also, leichthin gesagt, auch keine verbalen „Einführungen“ benötigt. Vorsorglich formuliert sie Jakober dennoch. Drei Klangschichten, in nuce autonom, sind wechselnd intensiv auf einander bezogen. „Der scheiternde Versuch von Eigenständigkeit“ in einem Verbindungen suchenden System. Klanglich schwebende Multiphonics der Holzbläser erzeugen mikrotonale Schattierungen. Fünf Streicher gehorchen Click-tracks und färben den Klang der Holzbläser. Wie oft bei Jakober: Überlagerungen von Temposchichten. Und ein klanglich fragiles, einsames Becken, vielleicht, fünf Monate vor der Uraufführung noch unentschieden, dazu ein Donnerblech. Zartes versus Maschinelles. Berühren, auseinander gehen. Gewachsen aus einem Kern von Materialien, verlockend, damit weiter zu arbeiten. In diesem Sinne ist „Substantie“ „aus anderen Stücken entstanden“. Das preisgekrönte Stück wird während WIEN MODERN ein wenig unterbelichtet flankiert: „nach Außen“ für Violine und Live-Elektronik, sowie „ins andere übertragen“, 2010 im Auftrag des Ensembles PHACE geschrieben.

Simultaner Ablauf unterschiedlicher Strukturen und Klangschichten, dadurch Aufhebung gemessener Starre; häufiger Einsatz von Live-Elektronik zwecks Klangausweitung – „der Bezug zur Ausgangsquelle sollte noch hörbar bleiben“ – das modellhafte Gestalten von Klängen, oder „den Klangraum aufspannen“, wie er einmal sagte: Diese Kriterien profilieren Jakobers Komponieren. Es umfasst seit 2001 rund fünfzig meist klein besetzte Stücke, ab und zu vokale, instrumental buchstäblich originelle, nicht sonderlich prädestiniert, häufig aufgeführt zu werden. Viertelton-Akkordeon, Zither, Hackbrett, Blockflöte, Orgelpfeifen. Letztere liebt er besonders, wegen ihres Klanges. „Wenn man hineinbläst, entsteht so etwas wie ein Schatten von Tonhöhen, da mischen sich spezielle Geräuschspektren ein. Der Flötenklang beispielsweise ist sauberer als jener der Orgelpfeifen, das finde ich faszinierend.“ Daher gründete er ein steirisches Orgelpfeifenensemble. Freunde; ihr Mitwirken liegt ihm am Herzen, denn sie spielen seine Musik bewundernswert intensiv. Charakteristisch für ihn, nicht daran zu denken, ob seine Instrumentenwahl einem infrage kommenden Ensemble konveniert. Vorrangig die Freude an seiner Arbeit. 

Zwar wird das Akkordeon, populär Ziehharmonika, auch in steirischer Stimmung angefertigt, ihrer aber bedient sich Jakober, obwohl selbst Steirer, gar nicht. Geboren in Kaindorf (eingemeindet Leibnitz), die Eltern wohnen noch dort, aufgewachsen knapp zehn Kilometer südwestlich in Heimschuh. Ein echter Sulmtaler, eigentümliche Landschaft im Übergang vom Wein zum Kürbis (nebenbei Ursprungsgebiet einer hervorragenden, gefährdeten Hühner-Rasse). Aus der Schulzeit blieben ihm Freunde, die mittlerweile alle in Wien wohnen. Der Kontakt zur Heimat rissig geworden. „Eine unglaublich konservative Gegend.“ Ihn stört, dass es in diesem Raum trotz Kulturbudget unmöglich wäre, was irgendwo anders auf dem Land dank kleiner Gruppen sehr wohl gelingt, wo John Cage, Alvin Lucier und ähnlich Positionierte gespielt werden. Und er ist entsetzt über das Steiermark-Wahlergebnis vom Juni 2015. Das Land unterstützte ihn 2010 mit dem Dobrowolski-Stipendium für Komponisten. Daraufhin ließ der damalige Bürgermeister von Heimschuh nur ausrichten, Jakober solle doch ins Gemeindeamt kommen und erklären, was er denn überhaupt mache, „nicht, um zu sagen, super, dass du das bekommen hast“. Wir berühren damit den bedenklichen Stellenwert von Musikerziehung und Musikkenntnis im propagierten Musikland Österreich.

Er studierte an der Kunstuniversität Graz. Den Abschluss absolvierte er 2006 mit Auszeichnung und darf sich „Magister in Komposition und Musiktheater“ nennen, worauf er verzichtet, weil’s komisch klingt. Seine Lehrer waren Gerd Kühr und Georg Friedrich Haas. Jakober „kommt nicht so aus der klassischen Tradition, mir lag nicht viel an einer Ausbildung mit zu viel Theorie. Bach natürlich ja. Aber muss man wirklich ein volles Jahr mit Kontrapunkt zubringen? Was soll ich damit anfangen?“ Auf der Suche nach dem Eigenen, Selbstzweifel eingeschlossen. Dann hört er Stücke von Haas, empfindet sie großartig. Und der Lehrer Haas beschert ihm die entscheidende Aufmunterung. „Er sagte etwas prinzipiell Einfaches: ,Mach das, was du liebst.‘ Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar, und das mache ich halt so gut ich kann.“ – Wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Allerdings komponiert Jakober nicht mit dem Schnabel, sondern mit dem Kopf und zwischendurch eventuell mit dem Bauch. Die Resultate sind häufig überraschend. Zum Beispiel 2010 „Puls 4, für 35 Röhren“, Auftrag des musikprotokolls im steirischen herbst, jenes Festival, das dem Unkonventionellen Chancen gewährt. Auf dem Dach der technischen Universität Graz die Molekularorgel, interaktive Skulptur des Konzeptkünstlers Constantin Luser, formal entwickelt aus einem noch unentdeckten Molekül. 14 Trompeten, 14 Posaunen, 7 Tuben, alle ventil-los pittoresk gebaut, im Kreis postiert, Blickrichtung der Spieler ins Zentrum. Die Musik strömt gleichsam in Wellen. Ferne Erinnerung an „Fifty-Eight“ für 58 Blasinstrumente, im arkadenumkränzten Grazer Landhaushof, John Cages letztes Werk, 1992 uraufgeführt während des musikprotokolls. Jakober holt die minuziös ausgearbeitete, großformatig stattliche Partitur zu „Puls 4“ aus einem Regal, ein Stapel loser Blätter. (Übrigens ist man in seinem Atelier nicht eingebunkert zwischen Stößen von Noten.) Proportionalnotation. „Eine ziemlich klassische Partitur.“ Punkte am oberen Rand markieren die Viertel. Was genau darunter steht, klingt gemeinsam, aber wegen der Tempoverschiebungen in den einzelnen Stimmen eben doch nicht. Also kein herkömmliches Tutti. Gezielt beabsichtigte Unschärfen. Primzahlenrelationen bilden Strukturen, tanzen jedoch aus dem Reglement. Man erkennt an Jakobers Entwürfen, dass er die Mathematik schätzt. Das Konstante in seinem Schaffen ist das auskomponiert Inkonstante. Das Reizvolle daran? „Der Mensch dringt ins Maschinelle. Das macht die Sache erst lebendig.“ Einerseits das Element des Maschinenhaften, das den Menschen bestimmte Handlungen aufzwingt. Fließband-Arbeiten. Oder Click-tracks, denen Musiker quasi ausgeliefert sind. Andererseits „genau die Abweichungen davon, das Nicht-im-Takt-sein, das Spiel damit, macht für mich die Musik aus“ und hat in seinem Denken Priorität. Ein gemeinsames Tempo aufsprengen und versuchen, annähernd wieder Gemeinsamkeit zu erzielen. „Aber beim Komponieren bin ich kein Mathematiker.“

Er bevorzugt kurze Titel, Besetzungen abseits der Norm. „Ab“ für Zither-Trio, tendenziell klangverfremdet; „Dort“ (Auftrag des Klangforum Wien); „rastern“ für Flöte, Klarinette und Akkordeon; „Stehende Zeit“ für Sopran, Laute und Gambe (involviert ist Eva Reiter, 2016 Trägerin des Erste Bank-Kompositionspreises; Titel und Instrumente verleiten zu musikhistorischen Assoziationen; der Text basiert jedoch auf der Erzählung eines jugendlichen Flüchtlings); „in Stille“ für 9 Orgelpfeifen, Chor, Flöte, Vierteltonakkordeon, Streicher und Live-Elektronik – ziemlich alles versammelt, was Jakobers Inspiration stimuliert. Der Auftrag Christian Scheibs, für das musikprotokoll 2007 ein Stück für vier Gitarren zu schreiben. Der Sprung ins Eiswasser, er hatte anderes erhofft. Bald jedoch erkannte er: „Das Instrument passt voll zu meiner Art, wie ich schreibe.“ „triften“ für Gitarrenquartett ist mittlerweile einige Male gespielt worden. Ein Stück für Gitarre und Live-Elektronik wurde kürzlich, im September, beim Ultima Festival in Oslo uraufgeführt. Geht’s auch ohne Elektronik? „Aber sicher! Eine Herausforderung. Derzeit das ,Klaviertrio‘ beim Haydn-Fest in Eisenstadt“, Uraufführung 28. November, sinnigerweise unter dem Motto „Stürmisch“ und das ohne Clicks.

Spaß sollte gelegentlich auch dabei sein. Zu wenig Humor in der Gegenwartsmusik. Also etwas unternehmen, „wobei man den Durchblick verliert“, wie bei gewissen ,Dingen‘ [lacht]. So der Titel der zwischen Konzert und Performance etablierten Arbeit im Tanzquartier, Uraufführung 2013 (WIEN MODERN). Im  Mittelpunkt das Chordophon, ein etwa sechs Meter langes Rieseninstrument, aus äthiopischer Frühzeit stammend, nur durch wenige, 1835 von den Archäologen Caillié und Cailliaud ausgegrabene Skizzen überliefert, nun zeitgemäß nachgebaut gemeinsam mit dem Choreographen und Musiker Paul Wenninger, zeremoniell bedient von zwei Spielern. Die aus dem konischen Klangkörper herausragenden Saiten, bestückt mit Tonabnehmern, werden mittels Hämmern und Streichen in Schwingung versetzt und erzeugen über dem Grundklang eine spezifische, zarte Obertonkonstellation. „Super“, kommentiert Jakober, irgendwie schleicht sie sich ein. Zwar sind Forschernamen und Ortsangaben korrekt, aber alles andere ist fiktiv. Ein Grubenhund. Humor durch die Hintertür. Diese Arbeit habe Vergnügen bereitet.

Das allein garantiert freilich keine Existenzgrundlage. Für die meisten Komponisten unerlässlich ist ein zweites Standbein. Jakober schreibt für Kollegen Noten. Vor allem für Georg Friedrich Haas. Zur Zeit erstellt er den Klavierauszug zu dessen Oper „Morgen und Abend“. Wahrlich eine heikle Aufgabe. Bestätigt jeder, der Haas-Partituren kennt. Auch wenn Jakober ganz anders komponiert, freut es ihn sehr, sich „mit Haas zu befassen, mit seinen Akkorden, das ist teilweise fast schon eine kindliche Freude“. Vielleicht also doch auch selbst an Spektral- und Obertongebilden interessiert? „Damit komponiere ich nicht, sie kommen zwar ab und zu vor, aber da ist Haas der Chef.“

Unbelastet von Erwerbssorgen verbrachte er zwischen 2011 und 2012 ein Jahr als Stipendiat der Akademie auf Schloss Solitude in Stuttgart, mit internationalem Artist-in-Residence-Programm, großzügig eingerichtet vom Land Baden-Württemberg. Wunderbar, aber auch relativ einengend, für Jakober mit der Zeit zu artifiziell, er vermisste die „normale“ Umgebung. „Ich brauche das, denn ich bin so aufgewachsen. Auf Solitude immer nur Kunst, Kunst, nur von Kunst umgeben [lacht].“ Allerdings veranstaltet die Akademie auch Konzerte, Stücke von ihm wurden aufgeführt. Am wichtigsten „in/visibile“ für Sprecherin, Orgelpfeife, Violine und Life-Elektronik, Text von Wolfgang Hofer („quasi un monologo circulare“). Wagners Lohengrin im Hintergrund, näher Salvatore Sciarrinos „Lohengrin (Azione invisibile)“, ein Monodram, die träumende Elsa allein auf der Bühne. Jakober zwischen diesen Polen: „Ich bin ein Sciarrino-Verehrer, muss aber auch sagen, dass mich Wagners minutenlanger Es-Dur-Klang unglaublich fasziniert hat. Wow!“ Er denkt nicht an das schwebende „Lohengrin“-A-Dur, sondern an die 136 Takte des „Rheingold“-Vorspiels, vibrierende Klangfläche, Vorahnung der um 1960 relevanten Massenstrukturen. „in/visibile“ hat sich zum Ausgangspunkt eines Musiktheaters entwickelt. Daran arbeiten Hofer und Jakober. Zielsetzung: Elsa aus dem permanenten psychischen Leid herauszuführen. „Sie erhält Besuch von historischen Persönlichkeiten, nachher weiß man nicht, ist das noch sie, oder schon jemand anderer.“ Beeinflussen in diesem Spiel die sich verändernden Situationen den Charakter der Frau, ihre seelische Verfassung? „Wir wollen die Frage an das Publikum zurückgeben. Jetzt entscheidet einmal ihr, ob sie leidet oder nicht.“ Henri Pousseurs „Votre Faust“ (1969) winkt von ferne. Dort entscheidet das Publikum mittels weißer und schwarzer Kugeln, wie die Story endet. Zu Jakobers Musiktheater existiert bereits die erste Libretto-Version Hofers, interpoliert sind Zitate von Celan und solche aus Briefen Ingeborg Bachmanns. Irgendwo im Text steht ein Satz, dessen Konsequenz Elsas Labilität aufheben sollte: „Im Innersten muss es doch einmal möglich sein, das Du zu vollenden.“ Das dürfte Peter Jakober wohl leichter fallen und hoffentlich ebenso die Vollendung dieses Projektes.

(Grundlage des vorliegenden Textes ist ein am 3. Juni 2015 mit dem Komponisten geführtes Gespräch.)